Christ in der Gegenwart

Veröffentlicht Juli 1, 2008 von admin in Allgemein

Lahmender Riese im Aufwind

 

Weichen Sinn hat Entwicklungsarbeit in Indien?

Von Martin Kämpchen

 

Als der amerikanische Präsident George W. Bush vor einigen Wochen Indien besuchte, nannte er das Land die „zukünftige Supermacht Asiens”. Nichts hörte die indische Elite lieber. Mit ihrem Applaus feierte sie den amerikanischen Präsidenten – und sich selbst. Bush, der im Vorgarten Indiens, im Irak, Krieg angezettelt hatte, war von den Journalisten und Politikern des Subkonti­nents seinerzeit heftig kritisiert worden. Doch als der mächtigste Mann der Welt cowboyhaft lächelnd und händeschüttelnd durch die Reihen der Politiker und In­dustriellen ging, gab es nur verehrende Blicke. Man wies darauf hin, dass Bush Indien vor allem darum ernst nehme, weil das Land in den kleinen Club der Atom­mächte aufgestiegen sei.

In der Region gibt es zwei davon: Indien und Paki­stan. Wenn auch die Konfliktstoffe zwischen den beiden Ländern bisher nicht ausgeräumt sind, hat sich das zwischenstaatliche Klima so stark verbessert, dass ein Atomangriff zwischen Pakistan und Indien weniger denkbar ist als früher. Aber die Tatsache bleibt: Indien wird gerade als Atommacht ernst genommen. Es wird nicht mehr als „Entwicklungsland” behandelt, sondern als eine erwachsene, gleichberechtigte Nation.

 

 

 

Erwachsen geworden durch die Atombombe?

 

Weiteren Aufschwung gibt die allmählich sich an­bahnende Zusammenarbeit mit China. Seit der chinesi­schen Invasion in den Nordosten Indiens im Jahr 1962 waren die beiden Länder verfeindet. Indien fürchtete auch die Wirtschaftsmacht des großen Nachbarn. In­dien beobachtete außerdem neidvoll die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft vom Kommunismus zur relativ freien Marktwirtschaft, zum Kapitalismus, wobei Chinas Wirtschaftswachstum dem indischen Wachs­tum meilenweit voraus war. Zynisch sprach man in In­dien von der „Hindu rate of growth”, der „hinduistischen Zuwachsrate”.

Dabei wurde angenommen, dass die hinduistische Mentalität das Vorankommen der Wirtschaft hindert, dass in asketischer Weltverneinung die ganze Energie auf das Ertragen der bestehenden Schwierigkeiten und Mängel gesetzt wird. Doch: Wenn der blühende Riese China und der lahmende Riese Indien bald eine ge­meinsame Front bilden, bringt dies die Welt ins Schwanken.

Schon saugt Indien an den USA durch das so genannte Outsourcing, der Transfer von Arbeit per Com­puter von Amerika in die Call Centers Indiens. Kein Zweifel: Indien ist als Wirtschaftsmacht im Aufwind. Letzten November war es auf einer Konferenz in Neu-

Delhi zu erleben, wie indische Experten den Vertretern der Europäischen Union vorrechneten, dass sie den Wettkampf um Weltmärkte und Prozente an Indien verlieren, falls sie nicht entschiedener gemeinsam handeln. Indische Fachleute drängen Europäer in die Defensive, nehmen endlich Abstand von ihrem Minderwertigkeitskomplex, also von der Klage, dass die Kolonialisierung durch die Briten sie kulturell und emotional gebrochen habe.

Doch gibt es auch Gegenstimmen. Der indische Schriftsteller Amitav Ghosh besuchte Phokaran, jenen Ort in Indien, an dem die Regierung zweimal unterirdi­sche Atomtests unternommen hatte. Den verwüsteten, verseuchten Landstrich im Blick, fragte er sich, wie es um die geistige Autorität einer Nation bestellt sei, die ihre Bedeutung durch eine Atombombe beweisen muss. War nicht vor fast sechzig Jahren dieses Land mit einer anderen Botschaft in die Unabhängigkeit eingetreten? Man wollte Freiheit von der Unterdrückung durch die Kolonialmacht, selbstbestimmt und zukunftsorientiert. Idealismus hatte sich im Unabhängigkeitskampf ange­sammelt. Derselbe Idealismus, der die Philosophie In­diens und eben auch das Temperament des Volkes durchdringt. Deutschland und Indien sind sich wegen dieser Grundhaltung geistig nahe.

In den letzten Jahrzehnten ist von den älteren Gene­rationen immer wieder vehement beklagt worden, dass die Ideale, für die sie kämpften, im unabhängigen In­dien nicht mehr beherzigt werden. Eine selbstsüchtige Mittelschicht und eine sich selbst dienende, aufgeblähte

Beamtenschaft sind herangewachsen. Die gebildete Schicht schielt nach den Segnungen des Konsums, während die untere Mittelschicht versucht, zumindest durch ein Angestelltenverhältnis eine gewisse Lebenssi­cherheit zu erringen. Amartya Sen, der berühmte indische Volkswirt­schaftler und Nobelpreisträger, sieht sein Land auf dem Weg zu einer Spaltung: in einen Bevölkerungsteil, der auf dem Niveau von Kalifornien lebt, und in einen auf dem Niveau der Subsahara-Länder. Hier die Mittel-und Oberschicht, die in ihren Wohlstandsgettos lebt -mindestens 300 Millionen Menschen -, dort die arme Masse in den städtischen Slums und in den fünfhun­derttausend Dörfern des Landes. Die Weichen für eine solche Entwicklung stellte die indische Regierung schon vor Jahrzehnten, als sie die zwei Sektoren vernachläs­sigte, die wesentlich sind für den Aufbau eines gesunden Gemeinwesens: die Erziehung in den Grundschulen so­wie das Gesundheitswesen.

 

 

 

Das Grundproblem: Überbevölkerung

 

Auch sechzig Jahre nach der Unabhängigkeit ist die Hälfte der Bevölkerung analphabetisch. Die Grundaus­stattung der Gesundheitszentren und Krankenhäuser für das so genannte allgemeine Volk ist desolat. Die besser gestellte Schicht hingegen kann sich private Schulen leisten und stieg in die vom Staat gut ausgestatteten Colleges, Universitäten und Elitehochschulen auf. De­ren Abgänger wurden zu den Führern und Managern des Staates. Sie können sich auch die privaten Kliniken leisten und brauchen nicht in die qualvoll überfüllten und unhygienischen Allgemein-Krankenhäuser zu ge­hen.

Ein willkommenes Signal war es, dass die Regierung neulich die doppelte Summe für Bildung veranschlagt hat wie bisher. Doch eine solche Maßnahme allein kann noch keine Gesellschaft zusammenführen. Notwendig ist nichts weniger als einParadigmenwechsel. Die Stunde dafür war noch nie so günstig.

Woran nun muss vordringlich gearbeitet werden? Die Überbevölkerung sollte wesentlich bewusster als das Grundübel in den Blick genommen werden. Familien­planung muss zu einer nationalen Kampagne der Auf­klärung und konkreten menschlichen Begleitung ge­macht werden. Sie darf nicht mehr der Regierung und einigen wenigen Nicht-Regierungsorganisationen überlassen bleiben.

Die „Arbeitskultur” muss sich dramatisch verbessern. In der deutschen Sprache gibt es bezeichnenderweise keine Entsprechung für work culture, weil das Problem im deutschen Sprachraum nicht oder nur in geringem Umfang besteht. Dazu gehören eine lethargische, un­disziplinierte niedere Beamtenschaft, allgemeine Unpünktlichkeit und Ungenauigkeit und Mangel an Wahrhaftigkeit im öffentlichen Leben. Dazu gehören auch politische Protestmärsche, die stundenlang den Verkehr stoppen, eine allgemeine Unwilligkeit, Dienste zu leisten, obwohl sie zum Beruf gehören und man dafür bezahlt wird. Nur jene Sektoren der Wirtschaft, die unmittelbar mit dem Westen zusammenarbeiten, etwa die Informations-Technologie, haben sich der eu­ropäischen Arbeitskultur angepasst. Auch die Privat­wirtschaft arbeitet hart, wobei deren Methoden oft schon die Grenze zur Ausbeutung der Angestellten überschreiten.

 

 

 

Wenn ein Gerichtsprozess zehn Jahre dauert…

 

Verbunden mit der mangelnden Arbeitskultur ist die weit verbreitete, die gesamte Gesellschaft durchsäu­ernde Korruption. Sic ist eine der Todsünden der Mittel­schicht. Die Korruption hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Sie ist auf die wachsende Konsumgier, die wachsende Hast der Mittelschicht zurückzuführen. Dass auch die riesenhafte Beamtenschaft für Korruption anfällig ist, zeigt, wie wenig sie bereit ist, als Staat Vor­bild für die Bevölkerung zu sein, wie wenig sie die Un­antastbarkeit und Integrität des Staates symbolisieren will.

Eine weitere Schwachstelle ist die überlastete und darum schwerfällig funktionierende Justiz. Die Gerichte haben zu wenig Richter und zu viel schwebende Fälle. Bis zum Urteil dauert es oft länger als ein Jahrzehnt.

Daraus folgt die Tendenz zur – oft brutalen – Selbst­justiz, unter der besonders die arme Bevölkerung zu leiden hat.

Diese Grundsituation kann sich nur dann ändern, wenn allgemeine bürgerliche Mitverantwortung Platz greift. Sobald die Mittelschicht beginnt, für die arme Bevölkerung zu kämpfen, setzt der Paradigmenwechsel ein. Vielleicht muss die wohlhabende Mittelschicht noch wohlhabender, noch konsumversessener werden, bevor sie einsieht, dass sie nicht gegen die Interessen der Armen handeln darf. Aber moralische wie auch ei­gennützige Gründe sprechen dagegen. Denn letztend­lich wird es der Mittelschicht unmöglich sein, sich ge­gen die Riesenmasse der Armen zu behaupten. Die Mittelschicht wird nach Möglichkeiten suchen müssen, auch die Armen am wirtschaftlichen Aufschwung teil­haben zu lassen.

 

 

Der Fluch des Kastendenkens

 

Das hinduistisch geprägte Milieu bevorzugt die hierarchisch abgestufte Gruppenbildung. Es besteht keine Zuwendung zum Nächsten, wie im christlichen Abendland. Dort ist der „Nächste” der mir jeweils: nächste Mensch ohne Ansehen der Person. Im Hin­duismus gehört man zu einer bestimmten Kaste und Unterkaste, noch eigentlicher zu einer bestimmten Fa­milie, einer Dorfgemeinschaft und zu einer bestimm­ten religiösen Gruppe innerhalb des Hinduismus. Und dieser Gruppe ist man zunächst und vor allem ver­pflichtet. Wird Hilfe und Unterstützung für die eigene Gruppe benötigt, sind Inder höchst großzügig mit ih­rer Zeit, ihrer Energie und ihrem Geld. Zum Beispiel setzen sie sich geradezu heroisch für ihre eigene Familie ein. Doch die Familie etwa, die seit Jahr und Tag vor ihrem eigenen Haus auf dem Bürgersteig lebt, würdi­gen sie keines Blickes.

Es gibt Anzeichen eines Umdenkens. So faszinie­rende Personen wie Medha Patkar, die ihren Lehrerpo­sten in Bombay aufgab, um für die Stammesbevölke­rung im Narmada-Tal zu kämpfen, verfehlen ihre Wirkung im Mittelstand nicht. Immer mehr Bürger­initiativen und Nicht-Regierungsorganisationen setzen sich für die Armen ein. Viele sind im Umweltschutz und für die Menschenrechte tätig. Viele bemühen sich um die Schulbildung der Armen, viele für die Rechte der Mädchen, viele Organisationen sind im Kampf gegen Aids entstanden. Es gibt Bewegung.

Hat es in diesem Szenario noch Sinn, in Indien Ent­wicklungsarbeit zu leisten? Entwicklungshilfe ist in der Tat nicht mehr sinnvoll. Das Wort wird nur noch selten gebraucht. An ihre Stelle treten „Entwicklungszusam­menarbeit”, „Partnerschaft”… Sie tatsächlich mit dem entsprechenden Geist auszufüllen, tatsächlich Zusammenarbeit

zu leben, verlangt auch in den abendländischen Geberländern einen Paradigmenwechsel. Je größer die Organisationen, je mehr Projekte sie verwal­ten, desto schwieriger wird dies sein. Denn die „Geber” müssen sich von ihren Denkmustern lösen, sich von der Mentalität, die vom „Geberstatus“ geprägt wird, be­freien. Vor allem müssen sie ihren Partnern in Indien und anderswo mehr Zeit schenken. Das ist für uns das Kostbarste.

 

 

 

Aus dem Blickwinkel der Armen

 

Wesentlich ist, dass wir unsere Machtsituation als Verwalter von Geldern klug einschätzen. Diese Macht wird von den armen Menschen auf uns projiziert, auch wenn wir sie nicht wollen. Die Verweigerung von Geld kann Leben zerstören. Die Verweigerung kann aber ebenso die akute Gefahr der Korrumpierung unter den Empfängern einschränken. Die Kontrolle des Geldes kann uns reichen Zivilisationen niemand abnehmen. Doch ist es notwendig, dass diese Funktion nicht unsere einzige und nicht einmal die wichtigste bleibt.

Wer sich als echter Partner in christlichem Geist

einbringt, für den ist Entwicklungsarbeit sinnvoll. Da-

hinter steht aber ein geradezu harter Anspruch. Wir sollen uns einlassen auf die anderen, was nicht mög­lich ist ohne eine gewisse eigene Anverwandlung in deren Lebenssituation. Ich stelle dabei mein Leben in Frage, verlasse meine Denk- und Lebensgewohnhei­ten. Das ist schwer.

Unser Dasein in einem Atomstaat und in einer Su­permacht wie Indien ist nur berechtigt und sinnvoll, wenn wir uns vom christlichen Abendland aus ganz mit unserem Besonderen einbringen: mit dem höchsten Gebot Jesu, dem der Nächstenliebe. Das heißt nicht Indien bekehren und taufen. Es bedeutet vielmehr, dass wir jenes tun, was Hindus in ihrer Tradition so schwer fällt: in allen Menschen unsere Nächsten sehen, die un­serer tätigen Liebe würdig und bedürftig sind.

Das Christentum ist seit dem vierten Jahrhundert in Indien nachgewiesen, seit dem 16. Jahrhundert wird das Land von Europa und Amerika aus missioniert. Christen sind eine Minderheit von 2,6 Prozent. Doch der Einfluss ist aufgrund der hervorragenden christlichen Schulen und Krankenhäuser weit stärker, als diese Zahl ahnen lässt. Jedoch haben die Christen die indische Gesellschaft (noch) nicht revolutioniert, nicht durchsäuert.

Seit der Kolonialzeit, von bedeutenden Randerscheinungen abgesehen, haben Christen eher mit den Mäch­tigen paktiert, als sich konsequent auf die Seite der Machtlosen zu stellen. Das eben ist der Nachteil des großen gesellschaftlichen Einflusses. Um die Einrich­tungen zu erhalten, bedarf es des Wohlwollens der poli­tisch Mächtigen. Dieses Wohlwollen müssen sich die Kirchen oft „erkaufen”, indem sie eben das nicht immer durchsichtige Machtspiel der Parteien und Beamten mitspielen.

Ich selbst betreue seit mehr als zwanzig Jahren ein Dorfprojekt in der Nähe von Santiniketan in West-Ben­galen. In zwei Stammesdörfern, Ghosaldanga und Bishnubati, habe ich versucht, eine ideale, alternative Ent­wicklung zu inspirieren. Ich wollte Inspirator, Mentor, Begleiter sein. Die jungen Menschen im Dorf, denen ich zunächst eine Schulbildung ermöglichte, sollten die „Motoren” der Entwicklung werden. Mir war bewusst, dass eine Entwicklung, die Bestand hat, eine Generation lang konsequent begleitet werden muss.

Ich wollte außerdem, dass Entwicklung ganzheitlich verstanden wird, nicht nur wirtschaftlich. Vor allem wollte ich, dass sich die Talente der Menschen bestmög­lich entfalten und diese dann als Träger der Entwick­lung aktiv werden. Bewusst beschränkte ich mich auch auf diese beiden Dörfer des Santal-Stammes, blieb also bescheiden und „unansehnlich”, um mit sehr vielen Menschen in einem unmittelbaren Austausch zu blei­ben. Meine Stellung im Dorf habe ich jeweils vorsichtig in jenen Grenzen der Autorität gehalten, die in dem Au­genblick notwendig waren.

Meine Verantwortung – vor allem auch für die Ver­teilung des Geldes – habe ich nach und nach in die Hände der Vollberufler in den Dörfern gelegt. Ich selbst habe keinen Cent von den Spendengeldern für mich selbst ausgegeben. Ich lebe als freiberuflicher Schriftsteller, Journalist und Übersetzer. Für mich war diese finanzielle Freiheit ausschlaggebend, die eine in­nere Freiheit bedeutet, mit der ich dann auch die Ent­scheidungen in der Dorfarbeit klarer mitbestimmen kann.

Trotz mancher Enttäuschung auf der menschlichen Ebene habe ich auch Wunderbares erlebt. Das Rettende wuchs oft unmittelbar aus den persönlichen und beruf­lichen Krisen hervor. Ich habe Engel gespürt, die mich umgeben, gerade weil ich den Mut besessen habe, keine Kompromisse einzugehen. Es geht entscheidend darum, sich immer wieder an die Seite der Armen zu stellen! Sie sind keine idealen Menschen, auch keine aufgrund ihrer Armut schon „besseren” Menschen. Nüchtern und realistisch, mit Klugheit und Beschei­denheit soll man mit den jeweils Nächsten zusammen­leben, die weniger bedeuten und weniger haben. Das gilt für Indien. Das gilt auch für Deutschland.

 

 

 

Quelle:    “Lahmender Riese im Aufwind!”

                 Welchen Sinn hat Entwicklungsarbeit in Indien? von Martin Kämpchen aus der Wochenzeitschrift

                 Christ in der Gegenwart (Nr. 23/2006) Freiburg im Breisgau

                 www.christ-in-der-gegenwart.de